Jazz History im Kasseler Kulturzelt 2022

Ron Carter Foursight Quartet im Kulturzelt Kassel 2022
Ron Carter, Renee Rosnes, Jimmy Greene – Foto: Christian Küster

Das Kulturzelt am Fuldaufer mit seiner langjährigen Tradition darf man getrost als Kasseler Institution bezeichnen. Nach einigen Turbulenzen und pandemiebedingter Pause sind im Jahr 2022 unter anderem gleich zwei wahrhaft legendäre Jazzmusiker – doch, es ist wahr – aus der Ü80-Generation zu Gast. Das reicht für die Ausschüttung sämtlicher Glückshormone auf einmal. John McLaughlins 4th Dimension zeigte, angereichert durch Gastpianistin Jany McPherson, Fusionjazz in Bestform. Ron Carters Foursight bot hervorragenden Modern Jazz, schrumpfte zwar durch Erkrankung des Schlagzeugers zum Trio, was aber gar nicht so weh tat. Beiden Bands gemein sind exzellente Musik und hervorragende Musiker von Weltrang.

John McLaughlin And The 4th Dimension

John McLaughlin Gitarre
Etienne M´Bappe Bass
Gary Husband Keyboards, Drums
Nocolas Viccaro Drums
Jany McPherson Piano

Frischer kann ein 80jähriger Musiker wohl kaum klingen. Am 10. Juli 2022, einem schönen Sommerabend, geben John McLaughlin and the 4th Dimension ein Konzert, so energiegeladen, dass man eine mittlere Großstadt für Wochen damit versorgen könnte. Die Reputation des musikalischen Explorateurs, Innovators und Weltreisenden reicht weit über die Jazzer-Blase hinaus und sorgt für ein volles Haus; gleich zwei Drumkits auf der Bühne und allerlei blinkendes Equipment rufen frohe Erwartungen beim Autor hervor.

Keine davon wird enttäuscht. Es wird ein Abend mit intensiver und in Teilen hochkomplexer Musik, packend dargeboten. Immer noch und unverändert spielt Mc Laughlin eine virtuose und filigrane Fusion-Gitarre, bisweilen rasant schnell, oft gefühlvoll, dann mit den für ihn typischen aneinandergereihten Kürzeln und ohne Scheu vorm krachenden Powerchord. Die Band steht dem in gar Nichts nach und agiert souverän und mit großer Spielfreude. Im Keller werkelt Étienne M’Bappé, dessen Hände ebenso schnell über die Saiten flitzen wie die seines Chefs, die Tasten drücken Gary Husband an den Keyboards und – als Special Guest – Jany McPherson am Flügel, die auch gesanglich positiv in Erscheinung tritt. Husband wechselt fallweise zum zweiten Schlagzeug: die Drum-Duos mit Vicarro sind von schwerlich zu steigernder Intensität, von McLaughlin mit offensichtlich großem Vergnügen verfolgt. Whoa!

Großes Vergnügen empfindet auch das Publikum, das sich mit standing ovations eine fulminante Zugabe erklatscht. Ein kurzer Blick nach oben: Ja, das Dach ist wahrhaftig noch drauf. Nachgespräch beim Bier mit Freunden, die Synapsen resonieren noch angenehm. Wir kommen zu dem Schluss, dass solche Musik nur möglich ist, wenn man als Musiker gleich einem Oktopus mehrere Gehirne hat. 

Ron Carter Foursight Quartet

Ron Carter Bass
Renee Rosnes Piano
Jimmy Greene Tenor Saxofon

Eine dezente Bluse, bestens sitzende Anzüge und polierte Schuhe statt casual wear: Allein der dress code signalisiert bereits, welcher Art der Jazz sein wird, der am 15. Juni zu hören sein wird. Das Zelt ist gut besucht, ausverkauft ist es nicht. Ron Carter bringt die mit allerhand Preisen und Auszeichnungen geehrte Renee Rosnes am Piano und den vergleichsweise jungen Jimmy Green am Saxofon mit. Ein Schlagzeug ist nicht aufgebaut, Drummer Payton Crossley fällt leider aus. Eine milde Enttäuschung diesbezüglich verfliegt jedoch schnell. 

Das Programm, ein naturgemäß mikrokleiner Ausschnitt aus dem gigantischen Portfolio des Bassisten, trägt etwas retrospektivisches in sich, und ja, es hat einen Hauch von Abschied. Carter, der seine Mitmusiker mit minimalsten Handbewegungen dirigiert, führt mit kurzen Ansagen durch die Stücke. Er erinnert dabei an längst verstorbene Kollegen (Dear Miles, dem Trompeter Davis gewidmet, etwa annonciert er mit „who left the concert in 1991”) und lobt seine Pianistin nach einem höchst beeindruckenden Solofeature („That´s why she is a pianist!”). 

Nicht nur die fantastisch aufspielende Renee Rosnes gilt es anzuerkennen. Saxofonist Jimmy Reed überzeugt mit klaren Lines, rauchigem Ton und sehr geschmackvollem Aufbau seiner Soli.

Ron Carter aber ist the boss. Sein Spiel ist gewohnt souverän und musikalisch,  sein großes Solo kurz vor Ende des Konzerts wird zum showcase und demonstriert nachdrücklich die über Jahrzehnte gewachsene Verbundenheit eines Weltmusikers mit seinem Instrument. 

Das Konzert endet mit einer Version von You and the night and the music. Eine Zugabe bleibt den Kulturzeltbesuchern leider verwehrt, doch immerhin kommt das Kleeblatt noch ein mal nach vorn, um sich erneut zu verbeugen.

Wolfgang Fricke