Chris Potter Quartet im Sudhaus Tübingen 2023

Chris Potter – sax
Edward Simon – piano
Scott Colley – bass
Nasheet Waits – drums

Tübingen, 11.3.2023

Frei von jeder Beliebigkeit

Viel Begeisterung im vollen Sudhaus für das Chris Potter Quartet

Kleine Geniestreiche in einem Konzert auf höchstem Niveau: So könnte man den gut anderthalbstündigen Auftritt des Chris Potter Quartets im mit rund 300 Besuchern gut besetzten Sudhaus zusammenfassend beschreiben. Das vom Verein „Jazz im Prinz Karl“ ausgerichtete und aus Fremd- und Eigenkompositionen zusammengestellte Konzert ist auf die ausgefeilte Blastechnik des am 1. Januar 1971 in Chicago geborenen  Alt- und Tenorsaxofonisten ausgerichtet, doch in der Qualität ihrer Soli stehen ihm seine Mitspieler kaum nach. Bei all den filigranen Strukturen gerät die Musik ausgesprochen dicht und überraschungsreich. Gleichzeitig bleiben die Musiker ihrer von Klarheit und Selbstkontrolle geprägten Linie treu.

Zu den weichen Basslinien des viermal für den Grammy nominierten Scott Colley flechtet der New Yorker Drummer Nasheet Waits immer wieder hochenergetische Akzente ein und auch der aus Venezuela stammende Pianist Edward Simon ist kein langweiliger Traditionsverwalter. Wer also nur auf den die Blicke auf sich ziehenden Bandleader und Saxofonisten achtet, könnte Wesentliches überhören. Denn die drei Mitspieler überraschen mit schnittigen Post-Bop-Varianten, die sie häufig mit rhythmischen Vertracktheiten verbinden. Das Spiel des in South Carolina aufgewachsenen Chris Potter, der mit Pat Metheny, Ray Brown und Joe Lovano ebenso zusammenarbeitete wie mit Steve Swallow und Dave Holland, ist gekennzeichnet von einer schier grenzenlosen Kreativität und einem lebhaften Gespür für Swing.

Gelegentlich wird ein Stück mit freiem Gebläse aufgeraut, um allzu gefälligen Wohlklang zu vermeiden. Und auch bei eher zupackenden Nummern wie „Got the Keys to the Kingdom“ sowie bei den groovenden Balladen überzeugt der 52-jährige Saxofonist durch Einfallsreichtum und individuelle Spielweise. Kaum ist ein Solo beendet, steht Potter mit geschlossenen Augen neben dem Klavier und lauscht, was die anderen mitzuteilen haben. Und immer wirkt er hochkonzentriert und strahlt eine enorme Ruhe aus. Nicht nur seine mit vollem Ton geblasenen Post-Bop-Varianten, auch die gefühlvollen Balladen wirken frei von jeder Beliebigkeit.

Dieses Konzert hat zweifellos Gewicht und Masse. Es besteht aus reflektierender Erinnerung, aus durchgearbeitetem Material, aus weniger effektvoll angelegten als durchdachten Arrangements. Und es besteht aus den Beiträgen vorzüglicher Jazzmusiker, die ihre Individualitäten nicht verbergen, sondern zum richtigen Zeitpunkt einsetzen. Einziger Wermutstropfen: die kalte Lüftung im Saal, die über weite Strecken und augenscheinlich nicht nur das Publikum, sondern auch die Musiker auf der Bühne immer wieder frösteln ließ.

Jürgen Spieß

Portraits von Chris Potter

Portraits von Edward Simon

Portraits von Scott Colley

Portraits von Nasheet Waits